Das blaue Tuch. August Gustl Gemmings Hassliebe zur Uniform

Als frischmontierte Regimentscadetten stecken August (16) und sein Bruder Theodor (17) Gemming in nagelneuen hellblauen, roth passepoilierten Körperhülsen. Sie schwören auf die Fahne und sagen ein Gedicht auf des Königs Waffenkleid auf. Ob die jungen Kerle ahnen, dass das Rezitieren von Versen ihr Schicksal nicht begünstigen wird?

Die Postkarte nach einem Aquarell von August Gustl Gemming zeigt, wie Gemming (salutierend) Prinz Ludwig die Feldflasche reicht. Dieser war in der Schlacht bei Helmstadt am 25. Juli 1866 verwundet worden. Quelle: Heimatmuseum Schnaittach

Mal Wohl, mal Wehe

Das blaue Tuch spielt in Werk und Leben des nur vermeintlich lustigen Lieutnants eine bedeutende Rolle. In einem Gedicht mit dem Titel Metamorphosen durchkreuzt es Pläne, indem es die ersehnte Verbindung mit der Liebsten verhindert. Denn als Feinsliebchens Mutter ihrer Tochter Verehrer gewahr wird, setzt sie der Liaison sofort ein Ende. Das lyrische Ich zieht den Schluss: „Es haßt die strenge Frau Mama / Zu sehr das  b l a u e  T u c h.“ Vermutlich erhoffe sie sich einen Schwiegersohn bürgerlichen Berufs oder wenn Militär, dann einen höheren Ranges, jedenfalls keinen Offizier, wird insinuiert.

Das rhetorische Stilmittel der Metonymie, die der Formulierung blaues Tuch zugrunde liegt. ist bezeichnend. Mit einem Kunstgriff lenkt das lyrische Ich den Fokus auf ein Detail, er nimmt pars pro toto, was in diesem Falle auf verräterisch schöne Weise die Sache verklärt. Die majestätische Farbe, in Kombination mit der poetischen Formulierung Tuch verhindert weitestmöglich alle realistische militärische Assoziationen – und damit alle berechtigten möglichen Sorgen der Schwiegermutter, die hier keine werden will. Auch das lyrische Ich blendet mögliche Gefahren durch die gewählte Stilisierung aus.

Im realen Leben rächt sich diese vereinseitigende Wahrnehmung: Theodor Gemming stirbt 1871 im Gefecht, sein Leichnam verbleibt in einem Gruppengrab in Frankreich. August verliert 1882 in einem militärischen Ehrgerichtsverfahren das Recht zum Tragen einer Uniform und erfährt damit für wichtige Gelegenheiten sozialen Miteinanders eine massive gesellschafliche Ächtung.

Ein fauler Kompromiss

Als Sohn des angesehenen, monarchietreuen Hauptmanns Karl Gemming, der eine 50jährige erfolgreiche Laufbahn als Militär vorzuweisen hat, muss es für August Gemming schwer gewesen sein, andere Möglichkeiten für sich in Erwägung zu ziehen. Während der Vater sich gekonnt in (hoch-)adeligen Kreisen zu bewegen weiß und zudem genau in diesen Zirkeln den Ort findet, seinen Kunstvorlieben nachzugehen, weiß August seine offenkundigen Natur-Anlagen in Hinsicht auf Musik, Zeichnen und Gymnastik im Militär nicht zu vervollkommnen. Dennoch, der prachtvollen Inszenierung in- wie ausländischer Souveräne kann er viel abgewinnen.

August Gustl Gemming schätzt das Militär, besonders das seiner Kindertage, also in Wahrheit das der Friedeszeiten mit Umzügen und Paraden. Es ist die Zeit, in der sein Vater Hauptmann und Platzstabsoffizier war, eine Zeit, in der Landwehren aus Handwerkern und Bürgern bestehen und die Uniformen oft genauso schlecht sitzen wie die Kommandos. Die Übungen werden selten richtig ernst genommen, weil ein leidlicher Friede herrscht und der Staat in seine Soldaten wenig investiert.

Das war eine Gaudi – eine Bürgerlust! Voran die Grenadiere mit mächtigen Bärenmützen, welche zuhause von den Kindern als Spielzeug, zuweilen wohl auch von einer in Geburtswehen befindlichen Katze als sicheres Asyl für sich und die […] Nachkommen benützt wurden. Dann kam hoch zu Roß der alte Landwehr=General [… auf] seiner lammfrommen Rossinante […] und nun folgte im Tritt und Schritt – so gut wie es eben ging, die Haupttruppe, deren Bayonette kreuz und quer funkelten […] wie die Nadeln auf dem Nadelkissen einer unglücklich verliebten Näherin.

Der Platzstabsoffizier, Selbstverlag 1882, S. 10

Gleich, ob Linien- oder Bürgermilitär, die Königlich-Bayerische Armee ist weit entfernt von der professionellen Disziplin, die sich in Preußen zu entwickeln beginnt, wofür Bayern dann im Feldzug 1866 seine Quittung erhält. Die Schmach sitzt tief und der König reagiert. Als Gemming und sein Bruder in Nürnberg in die Garnison einziehen, wissen sie nicht, dass der guten alten Zeit bald der Kampf angesagt wird. Den 1866er Feldzug erlebt Gemming persönlich mit. Er findet Anerkennung, weil er dem verletzten Prinz Ludwig bei der Schlacht von Helmstadt am 23. Juli 1866 einen Schluck aus der Feldflasche reicht.

Es sieht nicht so aus, als hätte Gemming seine absehbare Kollision mit dem System ernsthaft zu reflektieren versucht. Vielmehr scheint es, als hätte er für sich den denkbar faulsten aller Kompromisse gewählt. Einesteils rebelliert er innerhalb des Systems, wo er kann, andererseits sucht er, die Nähe zu den Hochwohlgeborenen. Ob es ihm primär um die Nähe zur Macht, um etwas Abglanz aus blaublütiger Prominenz oder um Apanage und Protektion ging, ist schwer zu sagen, womöglich spielt am Ende all dies zusammen – weitere Motive nicht ausgeschlossen.

Das durchaus zwiespältige Verhältnis, das der Premierlieutnant zur Armee pflegt, findet sich bis hinein in seine zahlreichen Illustrationen. Durchweg erscheinen die jüngeren Militärs als elegante, schmuck taillierte Männer, stets tailliert und hochgewachsen nach dem Vorbild des Kronprinzen Ludwig II. Als satirischer Zeichner, nicht zuletzt der Fliegenden Blätter, lässt Gemming nur die selbstzufriedenen Offiziere, Majore und Generäle, denen er zudem die höhere Pension neidet, aus den Nähten platzen. So ist es letztlich nicht die Uniform als solche, die er ablehnt, sondern das Militär, das alle Individualität uniformiert.

Illustration zu August Gustl Gemmings Gedicht „Ich saß einmal stille nach Osterzeit“
Quelle: Poetische Verbrechen, 5. Aufl., München o.J.

1871 reicht es seinen Vorgesetzten, sie legen ihm den Abschied nahe. Sofort beginnt Gemming mit seinem Kriegstagebuch „Von der Etappe“, das 1872 in Nürnberg erscheint. Am 23. Januar 1873 meldet er sich um nach München. Im polizeilichen Meldebogen gibt er als Zweck „Pensionsgenuß“ an – ein glatter Euphemismus, zu keiner Zeit, kann er von dieser Pension leben.

Als vergleichsweise junger Pensionist mit 35 Jahren trifft Gemming in München auf eine Garnisonsstadt im Umbruch. Diese Veränderungen sind durch die Dissertation von Christian Lankes bestens dokumentiert. Ein Hinweis eines Zeitgenossen Gemmings, des englischen Privatgelehrten und Dandys Edward Wilberforce (1834-1914) ist aufschlussreich. Wilberforce schreibt in seinem 1864 veröffentlichten Buch „Social Life in Munich“:

„No officer in London would think of walking the streets in uniform; and in Paris, I’m told the employment of uniform is formaly restricted to those on duty. In Munich, on the other hand, no military man is allowed to appear in any other costume.”

Edward Wilberforce, Socia life in Munich, London 1863, S. 21

Die Pflicht zum Tragen der Uniform gewinnt mit Gemmings späterem Ehrgerichtsverfahren an Bedeutung, erklärt sie doch, warum es ihm so wichtig blieb, sich zeitlebens als „Premierlieutnant [a.D.]“ ausgeben zu können. Er trägt das „blaue Tuch“, das „Waffenkleid des Königs“ mit Stolz. Dies im Kopf, lässt sich erahnen, wie sehr ihn das Ehrengerichturteil, bei dem er das Recht zum Tragen seiner Uniform einbüßt, persönlich und gesellschaftlich getroffen haben muss. Dabei hatte er „weder einen Vaterlandsverrath, Raubmord, Nothzucht, Unterschlagung, Bomben-Attentat – Urkundenfälschung oder Meineid begangen“. Nur ein Gedicht geschrieben. Dieses sei ein „Product übermäßiger Laune“ gewesen, weiter nichts. Es habe nie veröffentlicht werden sollen und sei, „besser nicht gemacht“ worden. Zu spät.

„Seine Majestät der König haben durch Allerhöchste Entschließung […] das in Angelegenheiten des Premierlieutnant a.D. Gemming gefällten, auf Verletzung der Standesehre unter erschwerenden Umständen lautenden Erkenntnisse des Ehrengerichts des Infanterieleibregiments, auf Verletzung der Standesehre zu erkennen und naturgemäß dem genannten Offizier das Recht zum Tragen der Militäruniform zu entziehen geruht.
Gez. von Maillinger.

Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abtlg. IV Kriegsarchiv, PO Nummer 210058

Was es mit dem Ehrengericht und dem Gedicht auf sich hat, darüber werde ich in einem anderen Beitrag schreiben.


Hier geht es zur August Gustl Gemmings Facebookseite.

Hier sind Links zu weiteren Blogposts über August Gustl Gemming und die Vorgeschichte:

Gemmings Hasen, Vignetten, Signatur, Lebenschiffre

Feste Bleibe? Gemmings Umzüge

Kopfkino – Gemmings Kriegstagebuch

Vom Fakt zum Fake.

Speeddate mit Folgen


Hinweise/Belege

Alle Zitate, soweit nicht anders vermerkt, aus: August Gemming, Ha, welche Lust, Soldat zu sein, S. 4, Selbstverlag, 1882 und August Gemming: Rechtfertigungsschrift, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abtlg. IV Kriegsarchiv, PO Nummer 210058.

Zu den Umbrüchen: Christian Lankes hat mit seiner Dissertation zur Garnisonsstadt München im 19. Jahrhundert ein sehr gut lesbares, umfangreiches Werk vorgelegt. Bei seinen Recherchen stößt er auch auf Gemming. Er verweist auf das Kuriosum, dass Gemming, „ein wacher, kritischer Geist“, eine „eigene Straße bekommen [habe] wie ein General“. Christian Lankes: München als Garnison im 19. Jahrhundert: die Haupt- und Residenzstadt als Standort der Bayerischen Armee von Kurfürst Max IV. Joseph bis zur Jahrhundertwende, Mittler, 1993, S. 532, zugl. Diss. Univ. München, 1993.

Zu Wilberforce: https://archive.org/details/cu31924028239758/page/n29/mode/2up Abruf am 20.02.2020, vgl auch Lankes, S. 18.