Gemmings Hasen. Vignette, Signatur, Lebenschiffre

August Gustl Gemming betitelt seinen lyrischen Erstling „Poetische Verbrechen.“ Den Buchdeckel zieren zwei Feldhasen. Sie sitzen Seit an Seit unter dem Namen des Autors. Der rechte fixiert den Leser mit durchdringenden Augen, der linke kehrt ihm den Stummelschwanz zu. Die Vorlage zu dieser Vignette hat Gemming vermutlich selbst gezeichnet. Später greift er auf einen Holzschnitt von Theuerkorn zurück.

Zwei Hasen als Vignettenbild von-August-Gustl-Gemming-Poetische-Verbrechen-2.-Auflage-1876Vignette

Signaturen bezeugen Urheberschaft

Signaturen, gleich, ob die von Malern, Radiererern, Stechern, Graveuren, Druckern oder Herausgebern schaffen einen Rechtsanspruch. Sie sichern die Urheberschaft, indem sie den im Namen oder Zeichen Ausgewiesenen beglaubigen. „P(inxit), del(ineavit), sc(ulpsit), f(ecit), inv(entit), imp(ressit)“ – so und ähnlich lauten die seit alters gültigen Abkürzungen plus Namensverweis. Da die Unterschrift auch störend auf dem Kunstwerk wirken kann, verbannten Kunstschaffende sie mitunter auf die Rückseite, ließen sie ganz weg oder schufen weniger störende Mono- bzw. Ikonogramme. Ursprünglich waren diese königlichen Siglen und Wappen vorbehalten. Doch Goldschmiede, Münzpräger oder Waffenschmiede kennzeichneten ihre Erzeugnisse genauso, nicht zuletzt, weil das Material sich dazu anbot.

Im Kunstkabinett des Vaters – Künstlersignets en masse

Gemmings Vater Karl Emil hegte eine große Leidenschaft für Kunst- und Kunsthandwerk in fast jeder Form. Schon früh durch einen gediegenen Hoflehrer an die schönen Künste herangeführt, kultivierte der Vater zeitlebens Kunstsinn und Kunstgenuss. Er verfügte über profundes ästhetisches Wissen, begann schon während der Militärzeit zu sammeln und schließlich mit Kunst zu handeln. Als Pensionist unterhielt er eine öffentlich zugängliche Sammlung von über 40.000 Kupferstichen und 25.000 Münzen. Früh war er ein bedeutender Teil der sich formierenden nationalbewussten Kunstszene und spendet Geld für das entstehende Germanische Nationalmuseum.

Vermutlich trifft der kunstinteressierte Sohn beim Vater zum ersten Mal auf die gestalterische Vielfalt von Signaturen und Ikonogrammen. Manche Künstlerfamilien – die Cranachs zum Beispiel – geben sich ein gemeinsames Markenzeichen, sie verwenden eine gekrönte und geflügelte Schlange. Doch Gemming bleibt vorerst bei der Unterschrift.

Sein „Gemming“ ziert ein betont lang gezogener Unterstrich. Der Schweif ist ausgeprägter als in seinen Unterschriften in Briefen, Widmungen und Formularen, aber vergleichbar. Gemming erzeugt sein erstes Malersignet. Schließlich wechselt er auf das Ikonogramm mit den beiden Hasen. Über seine Motivation lässt sich bis auf Weiteres nur mutmaßen.

Ikonographische Bedeutung des Hasen

Der Hase hat in vielen Kulturen seit der Antike eine ikonologische Bedeutung. Als lunares Tier symbolisiert er Vollmond und Neumond. Im antiken Rom wird der Hase als Attributtier der Venus gemalt, so dass sich Fruchtbarkeit und Sinnlichkeit mit ihm verbinden. Im Mittelalter und der Renaissance wandelt sich diese Symbolik zu Reinheit und Virginität. Im Umfeld der Heiligen Jungfrau mit dem Christuskind erscheint der Hase inmitten paradiesisch anmutender Gärtchen. Die Darstellung eines bergauf laufenden Hasen galt im Mittelalter als Symbol für die Auferstehung Christi. Doch schon bei Dürers Hasen ist wahrscheinlich die Freude am Diesseits, die Naturstudie als solche wichtiger als die tradierte Symbolik. Anders als heute, dürfte sie aber noch mitverstanden worden sein.

Der berühmteste Hase der Malerei: Albrecht Dürers Feldhase von 1502

Die Bedeutung der Hasen bei Gemming

August Gustl Gemming zitiert in seinen Hasen also zunächst den Volksglauben. Demzufolge galten Hasen als Tiere, die nie schliefen, oder wenn, dann mit offenen Augen.  Indem das eine Tier mit weitaufgerissenen Augen erscheint, stilisiert die Vignette es als Inbegriff von Wachsamkeit. Das links gezeichnete Tier verweist mit dem Hinterteil auf das Fluchtverhalten der Tiere, die dem Angreifer nichts als ihre weiße Blume zuwenden. In den Worten Angsthase oder Hasenfuß bleibt die Typik dieses Hasen zugeschriebenen Reißausverhaltens bewahrt.

Ergänzt man die Anordnung um topoi-allegorische Traditionen wie „rechts“ gleich richtig, „links“ gleich falsch, ergibt sich eine Deutung, die auf Gemmings militärische Vergangenheit anspielen kann: So macht der rechte Hase alles richtig, der linke alles falsch. Der rechte ist mutig und schaut dem Feind ins Gesicht, der linke nurmehr ein läppischer Feigling, der sich nicht im Feld bewährt, sondern das Weite sucht. Oder in der Etappe, hinter den feindlichen Linien bleibt – wie es Gemmings Ordre war.

Auch in Büchners Dramenfragment Woyzeck (entstanden 1836/37, hrsg. erstmals 1879) findet sich in der Eröffnungsszene unter den Soldaten Andres und Woyzeck eine Bezugnahme auf zwei Hasen – offensichtlich ein Lied, das im Stile der Kinder-/Kriegslieder eingesetzt wird, hier aber eine Anspielung auf das wahnhafte Ende Woyzecks vorauswirft.

Woyzeck und Andres schneiden Stöcke im Gebüsch.
WOYZECK. Ja Andres; den Streif da über das Gras hin, da rollt Abends der Kopf, es hob ihn einmal einer auf, er meint‘ es wär‘ ein Igel. Drei Tag und drei Nächt und er lag auf den Hobelspänen Leise. Andres, das waren die Freimaurer, ich hab’s, die Freimaurer, still!
ANDRES singt.
Saßen dort zwei Hasen,
Fraßen ab das grüne, grüne Gras …
WOYZECK. Still! Es geht was!
ANDRES.
Fraßen ab das grüne, grüne Gras
Bis auf den Rasen.

Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1–2, Band 1, Reinbek 1967–1971, bzw. München 21974, S. 168, (H4, Szene 1)

Das Löwenherz, das im Soldaten schlagen soll, ist das Gegenbild zum Angsthasen. Schon Grimmelshausen verweist auf deren insgeheime Beziehung, wenn er seinem Helden Simplizius ein Wunderschwert in die Hand bekommen lässt, vor dem selbst „behertzteste Feinde und Löwen-Gemüter / wie forchtsame Hasen entlauffen müssen“. (aus: German Schleifheim von Sulsfort [i. e. Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von]: Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch. Monpelgart, [i.e. Nürnberg] 1669, S. 492)

Gemming, der nicht nur seinen „tapferen Bruder“ Theodor im Deutsch-Französischen Krieg verlor, sieht den allseits geforderten Heldenmut womöglich längst kritischer, als er in manchem Gedicht glauben machen will. Da die Vignette wie ein Emblem über der gesamten Sammlung steht, eröffnen die Hasen interessante Dichotomien: Nicht Tapferkeit und Ausdauer begründen die soldatische Lebensversicherung, sondern Wachsamkeit und Schnelligkeit. In Porzellan gemalt fand sich das Bild der Hasen seitenverkehrt auf Gemmings Bierkrug.

Zwei Hasen als Gemmings Künstlersignatur

Die Hasen werden zu August Gustl Gemmings Künstlerkennung. Aufs Äußerste reduziert, sitzen sie versteckt als Signatur auf dem Boden oder werden nahezu unsichtbarer Teil der Komposition. Das Motiv erscheint früh in einer seiner rätselhaftesten Zeichnungen aus dem Kriegstagebuch „Von der Etappe“. Beide Hasen zeigen sich nun von hinten. Sie finden sich oben im Schnitzwerk auf der Lehnsesselkante, ganz als wären sie Teil des Mobiliars. Genau diese Version erscheint später an anderer Stelle. Der stolze Pegasus, das Musenpferd, ist in der zweiten illustrierten Ausgabe nicht mehr, was es einst war oder doch sein sollte. Statt eines Höhenfluges bleibt diesem Klepper nur noch der Gang ins Schlachthaus. Erneut finden sich zwei Hasen, Seit an Seit, jedoch wenden sich beide neuen Wiesen zu. Hat die Wachsamkeit endgültig ausgedient, nun da Gemming aus dem Militärdienst entlassen wurde?

Auch in anderen Zeichnungen kommt es vor, dass beide Hasen Reißaus nehmen und ihr Hinterteil präsentieren. Gemmings Lied „Ich trag‘ dich tief im Herzen mein“ enthält nicht nur die Noten für den Gesang und die Pianoforte-Begleitung. Nein, Gemming zeichnet auch eine Szene dazu, die dem Lied einen Erzählrahmen verleiht. Vollkommen im Gebüsch versteckt sitzen zwei Hasen in Rückenansicht. Wie in der Pegasus Zeichnung „Musenpferd in der Pferdeschlächterei“ schaut keines der Tiere mehr nach vorne.

Zwei Hasen als komplexe Chiffre für Gemmings Leben

Die im Sinnbild des Hasen qua Sprache erzeugte Leidensgeschichte zeigt W.G. Sebalds Essay Des Häschens Kind, der kleine Has, Über das Totemtier des Lyrikers Ernst Herbeck. Das dort vorgestellte Gedicht knüpft ambivalente Beziehungen zwischen dem „kühnen Tier“ das „lauscht“ und „keine Zeit zum rasten“ hat und der leidvollen Arbeit des Dichters.

Anders als Herbeck wurde Gemming nicht durch eine körperliche Fehlbildung und eine sozial ausgrenzende Diagnose belastet. Dennoch scheint es, dass er mit den beiden Hasen eine eigentümliche Chiffre für sein künstlerisches Leben zu entwickeln versucht. Dieses verändert sich spürbar. Nachdem er das Militär verlassen hat, versucht er sich als Lyriker und Zeichner. Die erhoffte Flucht nach vorne gelingt nicht. Im akademisch geprägten Kulturbetrieb Münchens hat er so gut wie keine Chance. Er ist offensichtlich früh verschuldet, macht sich mithilfe falscher Freunde echte Feinde, wird angeklagt und verurteilt. August Gustl Gemming kann Geld für Kuren und Medizin nicht mehr aufbringen, er erkrankt schwer.

Die Hasen können insoweit als Chiffre für sein Leben gelesen werden. Das je einmal nach vorne und nach hinten zurückblickende Tier mag Gemmings eigene Doppelgesichtigkeit anzeigen. Es mag für die Abkehr von der Welt, die ihm wenig noch zu bieten scheint, stehen, womöglich auch für die Flucht vor den allseits wartenden Gläubigern.

Hier geht es zur August Gustl Gemmings Facebookseite.

Hier zu weiteren Blogposts über August Gustl Gemming und die Vorgeschichte:

Feste Bleibe? Gemmings Umzüge

Kopfkino – Gemmings Kriegstagebuch

Vom Fakt zum Fake.

Speeddate mit Folgen