Tag der Archive 2020: Feste Bleibe? Warum ich August Gustl Gemmings Adressen digital und analog finden will

August Gustl Gemming wohnt in München nachweislich ruhelos. Seine zahlreichen Meldeadressen belegen mindestens zwanzig Ortswechsel. Häufig wechselt er in einer Straße mehrfach Häuser und Stockwerke, etwa in der Klenzestraße (18, 22, 34), Blumenstraße (21, 43), Müllerstraße (26, 46). Dazu nimmt er Quartier in der Marsstraße (34), der Baader- (56) und Schwindstraße (20). 1893 lautet seine Adresse Von-der-Tann-Straße 23 Rgb./0. Hier wird er elend, gepeinigt von Alpdrücken und Atemnot, an Wassersucht (Morbus brightii) sterben.

Vom Segen der Digitalisierung

August Gustl Gemming (1836-1893). Die Postkarte interpretiert seinen Spitznamen irrtümlich als Gustav. Das Digitalisat befindet sich im Münchner Stadtarchiv in der über 100 Motive umfassenden Sammlung „Münchner Originale“ von Karl Valentin.

Dank der Digitalisierung zahlreicher Münchner Adressbücher in der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) ließ sich dieser Befund schnell und bequem erheben. Naturgemäß dauert die Recherche auf dem Papierweg länger. Nicht digitalisierte Bücher mit Erscheinungsdatum vor 1900 stellt die BSB nur im Lesesaal zur Verfügung. Allerdings wartet dieser mit wirklich nutzerfreundlichen Öffnungszeiten auf – auch für Nachteulen.

Vom Fluch der Digitalisierung

Wer sich nur auf das Ergebnis der komfortablen Maschinensuche verlässt, verpasst interessante „Beiseite“-Information. Logischerweise findet die digitale Suche nach „Gemming“ alle verfügbaren Einträge sofort. Bei der analogen Suche blättert sich der Buchblock dagegen von vorne nach hinten oder von hinten nach vorne auf. Selten, dass man sofort in der Nähe des Gesuchten landet. Bis ich bei „G“ ankam, fand ich, mehr oder weniger ungewollt, alles Mögliche von „A“ bis „F“ oder „Z“ bis „H“. Jedenfalls staunte ich nicht schlecht, als ich unterwegs auf eigene Namensvetter im Register stieß. Eigentlich unnötig, weil redundant, würden reine Digitalliebhaber sagen, aber ich habe auch nochmal in dem polizeilichen Meldebogen von Gemming geschaut. Dieser befindet sich im Stadtarchiv München. Dort findet sich, dass Gemming auch in Hotels Quartier nahm.

Kulturtechnik Stöbern und Selektieren

Archivgüter wie Amtsbücher, Karten, Grafiken, Gemälde, Fotografien oder Tondokumente herauszugeben, birgt die Gefahr ihrer Abnutzung, womöglich Beschädigung. Auch alte oder rare Bibliotheksbücher unterliegen deshalb gewissen (Ausgabeorts-) Einschränkungen. Dennoch: Blättern bringts oft eben doch. Informationen, deren Relevanz nicht sofort ersichtlich ist. Mitunter finden sich rückseitig oder am Rande Notizen. In Amtsbüchern sind zusätzliche Anmerkungen zu dem Fortgang eines Akts keine Seltenheit. Diese Notate können von höherem Wert sein als der Akt selbst. Quellengeschichtlich wissen wir von der Existenz einiger Bücher der Antike nur, weil im Mittelalter reichlich auf sie verwiesen wurde – in Kommentaren bzw. Legenden.

Zurück zu Gemming: Natürlich hätte ich in den digitalen Ausgaben auch vor- und zurückklicken können, intuitiv bietet es sich aber nicht an. Der Modus digitaler Suche ist auf Sofort-Finden, nicht auf Mal-hier-mal-da-Stöbern aus. Erfolg der seit Jahren rein auf Effizienz hin positionierten Narrativierung, inklusiver der entsprechenden Designgestaltung und Userexperience. Dabei sind beide Kulturtechniken seit Jahrmillionen erprobt und unverzichtbar. Sie gegeneinander auszuspielen, führt zu nichts.

Effizienzmanko aufheben

Digitale Nachschlagewerke haben teilweise auf dieses Phänomen in der Userexperience reagiert. Mit Hinweisen zu den Einträgen vor und nach dem gesuchten Begriff, zu selten gesuchten Worten oder interessanten, vermutlich durch Künstliche Intelligenz gesteuerten anderen Bezügen, machen sie das potentiell gegebene Effizienzmanko wett. Der Duden versucht so, zum Stöbern einzuladen. Auch das großangelegte Projekt Bavarikon, ein Internetportal bayerischer Kunstschätze mit mehr als 270.000 Digitalisaten (Stand Februar 2019) arbeitet mit Bild[ähnlichkeits]erkennung durch Machine Learning. Dazu bietet es virtuelle Ausstellungen.

Der lustige August, ein trauriger Mietnomade?

Trotz aller Beschleunigung beim Beschaffen der Fakten braucht das Einordnen und Bewerten Zeit. Nochmal August Gustl Gemming: Wer, wie ich, verblüfft vor diesen vielen Meldeadressen stand, kann schnell auf Fehlschlüsse kommen. War Gemming ein Mietnomade? Klamm genug war er in seinen immerhin zwanzig Münchner Jahren allemal. Doch das ist nicht die einzig mögliche Erklärung. Die folgenden Hinweise entnehme ich dem Buch von Gerhard Neumeier: München um 1900. Frankfurt/Main 1995. Den Tipp verdanke ich kundiger Stelle im Stadtarchiv München – keinen digitalen Avataren, sondern echten Menschen, deren Begeisterung für Quellen und Bücher spürbar ist.

Überraschend kurze Mietverhältnisse waren in bestimmten sozialen Schichten und Vierteln durchaus üblich. Alleinstehende wie Gemming, aber auch kleine Familien, wechselten regelmäßig ihre Wohnung. Am Gärtnerplatz wohnte ein Viertel aller Gemeldeten, 25,3 Prozent, nur knapp ein Jahr zur Miete, im Glockenbach sogar 34,5 Prozent. Die „seßhaftesten Bewohner der Stadt“, waren die „älteren reichen Privatiers in den Zentren“, etwa im Lehel oder am Königsplatz (Neumeier, 221 und 297). Umzüge damals waren allerdings auch weniger aufwändig. Der Hausstand passte mitunter in einen Leiterwagen.  

Verfügte um 1900 jeder Mensch
durchschnittlich etwa über 180 persönliche Dinge,
so sind es heute 10.000.

Vom Schweinestall zur 1A-Adresslage

Die meisten der von August Gustl Gemming bewohnten Zimmer oder Wohnungen liegen inzwischen in hochattraktiven Lagen. Das war lange anders. Zwischen 15 und 50 Mark monatlich kostete um 1880 eine Mietwohnung im Gärtnerplatzviertel. Das Gebiet galt „jahrhundertelang als ‚Arme-Leute-Gegend‘, deren Einwohner bei den ‚Schweineställen‘ lebten.“ Letzteres ein Hinweis, wie stark die städtische Ausdehnung in die immer noch ländlich geprägten Regionen hineinragte. Spekulanten versuchten durch repräsentative „Fassadengestaltung“ das Viertel zu „nobilitieren“, aber der Plan ging nur bedingt auf (Neumeier, 111).

1860 entstand „das erste reine Mietshausviertel“ – ein „eintöniges und rasterförmige Wohnquartier“. Es war für bessere Kreise gedacht, konnte aber den Leerstand nicht wie geplant füllen. Daher sanken die Preise sogar später wieder von 50 Mark auf etwa 30 Mark. Die Mieter konnten wählen – ein „Nachfrageüberhang“. Die pro Person verfügbaren Quadratmeter rangierten zwischen 7qm in der unteren Unterschicht und 17-23qm in der oberen Mittelschicht. Der Oberschicht standen mindestens 25qm zur Verfügung, das kostete dann aber auch ab 100 Mark aufwärts (Neumeier, 111).

Ein Stadtteil für jede Schicht?

Der sozialen Schicht der Bewohner entsprach eine „soziale Hierarchie der Stadtteile“. Ganz unten (Stufe 1) Westend und Giesing, ganz oben (Stufe 7) Lehel, Kreuz-, Königsplatz-, Universitäts-, Wiesenviertel. Das Gärtnerplatzviertel rangierte auf Stufe 5, der Glockenbach mit anderen auf Stufe 4 (Neumeier, 63).

Ein Tod im Rückgebäude

1871 gibt es rund 170.000 Einwohner in München. Der Zensus 1880 zählt in „53.457 Haushaltungen“ des Münchner Stadtgebietes bereits „230.023 Anwesende“ (119.990 w/110.033 m). (Quelle: Ergebnis der Volkszählung vom 1. Dezember 1880, s. Adressbuch von München für das Jahr 1882). 1914 werden es 630.000 Personen sein (Neumeier, 12).

Da die Bebauung, die wir heute in München kennen, teilweise erst in den 1870er und folgenden Jahren entstand, ist es also gut möglich, dass man mit jedem Wechsel auch in ein neueres und damit besseres Wohnverhältnis eintrat. Die Münchner Bevölkerung begann regelrecht zu explodieren, es gab Bodenspekulation, Neuerschließungen von Bauland und Neubauten.

In der zuletzt gemeldeten Adresse, der von-der-Tannstraße 23/0, wo August Gustl Gemming zur Untermiete im Rückgebäude wohnt, ereilt ihn der Tod. Auch hier nochmal ein klarer Hinweis auf soziale Gruppierung in der Quartierbildung: „Die Oberschicht wohnte vor allem im Hauptgebäude, im ersten und zweiten Stock, mied das Rückgebäude fast vollständig und unterschied sich damit von den Unterschichten.“ (Neumeier, S. 297)

In der typischen Sprache urkundlicher Texte heißt es in der Sterbeurkunde Exakt am „vierzehnten Februar des Jahres tausendachthundertneunzigunddrei Nachmittags um vier ein viertel Uhr“. August Gemming stirbt vollkommen mittellos, “wegen Ablebens des Schuldners“ gehen alle Gläubiger, wie der Nachlassverwalter im April 1893 informiert, leer aus.

Sterbeurkunden, genau wie Geburts- oder Heiratsurkunden finden sich in den entsprechenden Registerbüchern der Stadtarchive. Wie Archiv-Leiter Dr. Michael Stephan am diesjährigen Tag der Archive (7. März 2020) zeigte, bewahrt sein Haus darüber hinaus eine Fülle an Dokumenten auf, darunter allein fünf Schedelsche Weltchroniken und andere unschätzbare Rara (Zimelien). Jährlich kommen etwa 400 laufende Meter aus der Stadtverwaltung hinzu. Das Haus versteht sich freilich nicht als Bewahrer von Papier, sondern als Dienstleister, um Bürgern und Interessierten Quellen zugänglich zu machen. Die Quellen in den Registern stehen zur Einsicht nach gesetztlich vorgeschriebenen Sperr- oder Rückhaltepflichten bereit. Bei Sterbeurkunden sind das von heute ab gerechnet 30 Jahre, bei Heiratsurkunden 80 und bei Geburtsurkunden 110 Jahre.


Hier geht es zur August Gustl Gemmings Facebookseite.

Hier zu weiteren Blogposts über August Gustl Gemming und die Vorgeschichte:

Neue Narrative vom Sterben. August Gustl Gemming, der Alte Nördliche und der Tod

Kopfkino – Gemmings Kriegstagebuch

Vom Fakt zum Fake.

Speeddate mit Folgen

Da es thematisch passt, hier noch der Hinweis zu meinem Blogpost über den Open Government Tag in München OGT19 im Dezember 2019.