Kunst-Qualen. Gewalterfahrung und literarische Rache bei August Gemming

Gemmings Wege zur Kunst begleiten mindestens drei Gewalterfahrungen. Seine autobiographischen Notizen „Erinnerungen an vergangene Tage“* nennen sie nacheinander und stellen so einen direkten Zusammenhang her.

Gewalterfahrung Nr 1)
Auf der Gewerbeschule eckt der Junge mit einer karikierenden Wachsplastik beim Lehrer an. Er kassiert „eine solche Tracht Prügel, dass ich für immer und ewig der Plastik Valet sagte“. Das zurückblickende autobiographische Ich bescheinigt seinem „Erstlingsversuche […], „vollkommen gelungen“ zu sein, der Anfänger habe den Modellierlehrer „wunderbar in Wachs bossiert“. Sodann jedoch setzt er in Klammern nach: „(die Beine hatte ich ihm allerdings etwas krümmer gemacht, als es das Original besaß)“.

Gewalterfahrung Nr 2)
Auf der Lateinschule führt eine Bleistiftsarbeit zur Misshandlung des Schülers durch den unterrichtenden Professor. Über seine Zeichnung äußert sich das autobiographische Ich Jahrzehnte später. Der Erzieher züchtigt den Pennäler derart mit dem spanischen Rohr, dass er diesen wie den brutalen Akt selbst noch als erwachsener Autor „im Gedächtnis“ behält. Kein Wunder, sein „verlängerter Rücken spielte alle Farben wie ein Stück geschliffener Labarador“. Erneut findet sich eine wichtige Aussage in runden Klammern: „(das Bild war zum Erschrecken ähnlich“).

Gewalterfahrung Nr 3)
Kaum weniger schmerzhaft endet das „Redigieren einer satyrisch humoristischen […] aber mit höchst ergötzlichen Carrikaturen illustrirten Schulzeitung, wovon überhaupt nur drei Nummern das Licht der Welt erblickten“ (S. 9-11). Diesmal ist es der Rektor, der ihm die Blätter „ein paar mal ums Maul“ schlägt, ihn verbal beleidigt und schließlich „sechs Stunden in den Carcer sperrte, wohin mich der bärbeißige Pedell mit seinem Kupferbergwerk in Mitte seines Zifferblattes (Gesicht) […] abführte“.

Die Art und Weise, in der das erwachsene Ich die traumatischen Erlebnisse des kindlichen Ichs zu gestalten versucht, ist in verschiedener Hinsicht interessant. Denn was in autofiktionalen Schriften gesagt oder nicht gesagt wird, bleibt auch in den Leerstellen vielsagend. Die Erfahrungen aus der Schule bzw. schulmeisterlichen Erziehung ist ein Topos autobiographischer Literatur. Die von heute betrachtet schwarze Pädagogik verstand sich damals teilweise sogar als aufgeklärt. Kindheit als einen genuinen Lebensabschnitt zu betrachten, ist ein vergleichsweise spätes Produkt, galten Kinder doch lange Zeit als kleine oder unvollständige Erwachsene. Dass ist aber nicht der Punkt, auf den ich blicken möchte.

In den zitierten Passagen werden drei Anläufe zum Dasein, künstlerisch zu arbeiten, dargestellt. Literarhistorisch steht die Passage damit in einer (autofiktional) erzählerischen Tradition – angefangen vom Anton Reiser von Karl Philipp Moritz bis hin zu den dezidierten Bildungs- und Künstlerromanen im 19. Jahrhundert. Die Erziehung durch Lehrer oder Schulmeister sind nicht selten mit körperlichen und seelischen Qualen verbunden (Im Falle Reisers setzt die Gewalt schon in der pietistischen Kernfamilie an). Bei Gemming ist die Schule Ort der Suppression.

Der Zeichen- und Bossierunterricht, den die Schüler auf Latein- und Gewerbeschule erhielten, verstand sich übrigens nicht schöngeistig als Verlängerung der Septem artes liberales. Vielmehr ging es darum, den Kindern früh wesentliche Fähigkeiten mitzugeben, die in der Armee nützlich sein würden. Die künstlerische Ausbildung in diesem Sinne war also reichlich verzweckt: Angehende Soldaten etwa sollten feindliche Stellungen durch Gebirgs- und Flusskärtchen rasch skizzieren, künftige Handwerker zügig im Tross oder vor Ort eingesetzt werden können.

Zurück zum Text, konkret die Züchtigung mit dem spanischen Rohr. Der Text fasst das Gewalterlebnis in einen euphemistisch anmutenden Vergleich. Sein Hinterteil habe „wie ein Stück geschliffener Labarador“ ausgesehen. Gemeint ist der blauschimmernde Stein Labradorit, dessen irisierende Farbwerte blau, violett und grün durch Schliff besonders hervortreten.

Jedem Vergleich liegt sprachlich ein doppelter Kunstgriff zugrunde: Einerseits nähert er (mindestens) zwei Dinge einander an, indem ein Bild bzw. Sachverhalt zu einem anderen in eine Beziehung tritt. Andererseits stellt das Wort „wie“ unmissverständlich heraus, dass es eben nur ein näherungsweises Zusammentreffen ist. Die angebliche Vereindeutig der beiden Sachverhalte bleibt instabil, fluoreszierend wie die Interferenz des Gesteins selbst.

Zwar verrät die Wahl des Minerals als solches, wie sehr sich der Gewaltakt in der Erinnerung des jungen wie des erwachsenen Ichs sedimentiert hat. Die damalige Demütigung im Klassenraum vergleichslos zu schildern, unterlässt der Autobiograph jedoch. Dass beide Ichs an der Erfahrung der Ohnmacht und der Ungerechtigkeit verbal zu scheitern drohen, liegt im Bereich des Möglichen. Wo der Ausdruck des Schmerzes ganz unmittelbar verlautet, mögen Schreie oder Weinen dem Pennäler näher gewesen sein. Im Rückblick bleibt die peinliche Bestrafung ungesagt. Vergleichend lässt sich Unmittelbares nicht fassen, der Text versagt hier gleichsam erzwungenermaßen und setzt stattdessen die spätere, von Schichten überlagerte, in-kulturierte Version ins Bild. So erfahren wir nichts darüber, wo und wie die Misshandlung stattfand. Durchaus üblich war die Züchtigung im Klassenraum selbst, doch Ort, Zeit und anderer Kontext bleiben unerzählt.

Der Vergleich, den das erzählende Ich wählt, ist allerings nicht frei von Aggression oder Rachlust. Auf das Gesäß zurückspielend, produziert er in diesem Fall ein Analogon, das ein metaphorisches „ich sch… drauf“ ermöglicht. Die Vervielfältigung der Zeichnung – immerhin 50 Exemplare,  à „sechs Kreuzer“ bedenkt das erwachsene Ich lapidar: „Das Geschäft ging flott.“ (10)

In diesem Zusammenhang sind auch die „unheilbaren Hämmorrhoidialleiden“ (10), an denen der alte Herr Professor leidet, zu qualifizieren. Nach humoralpathologischer Lesart steht hier ein sauertöpfischer, an Verstopfung leidender Vertreter der schwarzen oder gelben Galle am Pult. Ersteres dem melancholischen, zweiteres dem phlegmatischen Temperament zugeordnet und damit Mannes- oder Greisenalter anzeigend, setzt der Autobiograph den kindlich unschuldigen Jungen als gesunden Sanguiniker mit guter Verdauung ab. Kaum zufällig: Während seiner Militärzeit charakterisieren Gemmings Vorgesetzte ihn brieflich als „Sanguiniker in höchster Potenz“ (Quelle: Kriegsarchiv).

Neben solchen beredten Racheideen sind auch die handgreiflichen Racheakte des Kindes nicht ohne:

„Aus Dankbarkeit hing ich ihm des Nachts eine lebendige Katze an den Glockenzug, welche das ganze Haus alarmierte. Von der nächsten Straßenecke beobachtete ich die Wirkung meines Racheaktes.(10)

Es wird nicht eigens gesagt, aber Zeichnungen des tierquälerischen Streichs lassen vermuten, dass die Katze am Schwanz festgebunden wird. Auch dies eine deutlich vulgäre Anspielung, ein pars pro totum, wenn man so will. Zugleich aber auch ein Akt der Verzweiflung, um die erfahrene Gewalt publik zu machen und die bürgerliche Ruhe zu stören.

Laut autobiographischer Humoreske bringt sich der Schüler mit seinen Karikaturen um die weitere Ausbildung. Freilich nicht ohne sich auf subversive Weise schadlos zu halten:

„Modellieren und Schriftstellerei war zwar seit jener Zeit schon auf meinem Programm gestrichen, das Zeichnen jedoch wurde von dem muthwilligen Cadetten jetzt noch flott fortbetrieben. Unter seinem Tornisterdeckel befand sich das Skizzenbuch. An Stoff fehlte es damals wahrhaftig nicht, und dass ich denselben auch emsig verwerthete, können mir die „Fliegenden Blätter“ mit gutem Gewissen bezeugen.“

Der spätere Verfasser satirischer Verse und Zeichnungen bezeugt sein Tun „mit gutem Gewissen“. Das schlechte Gewissen müssen andere haben. Nicht nur mit M. Bachtin lässt sich solche Triebabfuhr auch als karnevalistische Widerständigkeit gegen Obrigkeiten aller Art lesen. Humor als Kraft der Selbstbehauptung – durch Lächerlich machen, durch Gegen-Lachen, durch Zersetzung von Idealen oder gar Vernichtung.

Die drei Passagen lassen sich im Zusammenhang aber auch als sprachimmanent poetologische Aussagen interpretieren. Hier sind die Klammern entscheidend. Wie bei mathematischen Operationen deuten sie auf den Vorrang in der Betrachtungsreihenfolge.

Im ersten Beispiel können poetologische Diskursanspielungen im Text verortet werden: „vollkommen“, „bossiert“, „Vielleicht wäre ich ein zweiter Thorwaldsen geworden? Wer kanns wissen?“ Unverkennbar sind hier Versatzstücke der Winkelmannschen und Lessingschen Gestaltpoetik wachgerufen. In dem skulpturalen Werk des Dänen Thorvaldsen fand sich die Orientierung (und Übertreffung) an antiken Vorbildern, die idealisierend und natürlich zugleich sein sollte. Zum Stilideal geglätteter Überhöhung wollen die krummen Beine nicht passen. In ihnen bewahrt sich ein widerständiger Rest, der sich gegen die ästhetische Normierung als Selbstheit behauptet.

Im zweiten Beispiel enthält die Klammer genau die gegenteilige Position. Diesmal gerät das Portait dem Original so nahe, dass es „zum Erschrecken ähnlich“ ist. Hier klingen Diskurse des um 1870 aus dem Realismus entstehenden Naturalismus an, der mit der Hinwendung zu anderen Sujets, Form- und Stilexperimenten das Geschmacksurteil der Zeitgenossen herauszufordern begann. Als Lyriker versucht Gemming sich vereinzelt an Sujets, das Verdreschen mit dem spanischen Rohr weicht nun allerdings der Warnung „nicht zu verheinen“ (Heinrich Heine als Bezug ist gemeint).

Im dritten Beispiel entält die Klammer überraschenderweise das ‚eigentlich‘ Gemeinte: „(Gesicht)“. In einer Art Rückauflösung wird dem Leser sicherheitshalber noch einmal versichert, was die Metaphernfolge meint – und kann es doch nicht. In den gefundenen Metaphern – „mit seinem Kupferbergwerk in Mitte seines Zifferblattes“ – wird der Schulalltag mitsamt Personal beinahe lyrisch vieldeutig: Assoziierbar ist im Ziffernblatt etwa die blinde Pünktlichkeit der Unterrichtsstruktur, im Kupferbergwerk die alkoholisierte Nase, oder das vergleichsweise mindere Metall (vergleichen mit Silber oder Gold). Beinahe nachlässig oder desinteressiert reicht das autobiographische Ich den Hinweis „Gesicht“ nach. Doch die begriffliche Erklärung, die viel weniger leistet als die Metaphern zuvor, weist im Zusammenhang der drei kleinen Passagen am deutlichsten in den Text selbst zurück. Wie alles originäre metaphorische Sprechen letztlich der Repräsentationsfunktion von Sprache im Kunstwerk aufhebt.

Verhaftet in eher konservativen Geschmackspräferenzen seines von Adel und Militär geprägten Umfeldes, entwickelt sich Gemmings Ästhetik nicht weiter. Den Weg des Experimentellen wählt er nicht. Dennoch seine in der Satirezeitschrift „Fliegende Blätter“ veröffentlichten Gedichte und Zeichnungen zeigen idealisierende wie naturalistische Spuren. Noch am ehesten ließe sie sich in einer Poetik der Pointe fassen, mit allem, was an Uneindeutigkeit – und Unbeugsamkeit – dazu gehört.

*alle Zitate: Ha, welche Lust, Soldat zu sein. Erinnerungen an vergangene Tage. Humoreske von August Gemming (1882), S. 9f

August Gemming starb am 14. Februar 1893. Er liegt auf dem Alten Nördlichen Friedhof in der Maxvorstadt in München.

Was mich mit August Gemming verbindet, lesen Sie hier:http://www.elvira-steppacher.de/blog/de/2020/02/16/speedate-mit-folgen-der-tote-august-und-ich/

Weitere Beiträge zu  der historischen Person Gemmings unter diesem Link: http://www.elvira-steppacher.de/blog/de/category/august-gustl-gemming/