Wie Frieden & Freundschaft auf den Hund kamen oder wozu noch Gedichte?

Wer die feinen Klänge in der Nacht zum 4. Oktober 1957 registrierte, mochte Tiefsee-Sonar vermuten, einen surrealen Unterwassertraum annehmen, doch das Geräusch war echt. Den Hall im All erzeugte SPUTNIK EINS, der erste russische Satellit. Sein Sound, eine Zeitenwende.

Es war ein Coup ohnegleichen: Obgleich der Satellit wenig mehr konnte, als Signale auszusenden, verpasste er der westlichen Welt einen tiefgreifenden SPUTNIK-Schock. Und überließ die USA journalistischer Häme: Mochten die Amerikaner noch so eilig ihren eigenen Satelliten auf die (Umlauf-)Bahn bringen, er bleib ein verspotteter „SPÄTNIK“.

Man kann sich den Effekt kaum wirkungsvoll genug ausmalen. Der Rätselort schlechthin, mit einem Mal erschlossen. Seit Menschheitsgedenken war der Weltenraum (wie man einst Plural formulierte) immer auch Ort von Sehnsucht, Hoffnung, Weissagung, Staunen und Schauder gewesen. Offener Überhorizont für mystische Versenkung, kosmisches Verstehen und metaphysische oder szientistische Spekulationen. Die Freiheit des Unerreichbaren verkehrte sich jählings. Einigen mochte ein Gefühlt desperater Freiheitsberaubung dämmern. Vollkommen unerwartet jedenfalls wähnte sich die Öffentlichkeit nun von roten Sonnen, Sternen und Raketen ausspioniert.

Dank der fernen Signale konnte die Spur des Sputnik gut verfolgt werden. Mit den damals zur Verfügung stehenden Medien freilich, also Funkempfängern, Teleskopen, Ferngläsern. Wer meinte, die Bahn mit bloßem Auge verfolgen zu können, sah vermutlich verglühende Teile der abgetrennten Raketenstufe.

Für die bis heute faszinierende technische Leistung zeichnete Sergei Pawlowitsch Koroljow verantwortlich. Seine Biografie lohnt, studiert zu werden. Er wurde denunziert, gefoltert, zu zehn Jahren Haft im Gulag verurteilt, erkrankte an Skorbut, verlor sämtliche Zähne, wäre beinahe verhungert.

Mein Punkt heute ist, dass er in einem bestimmten Aspekt mit #SteveJobs verglichen werden kann. Denn es war #Koroljow, der die semiotisch-psychologische Bedeutung der #Kugel als Form erkannte und dafür sorgte, dass der #Satellit aus Aluminium glänzte wie ein Kinderpopo. Die Crew hatte das Ding zu wienern, bis nicht ein Fleck mehr daran zu sehen war. Auch die vier langen Antennen waren nach seinen Plänen angebracht.

Die ästhetische Meisterleistung war russisches #Storytelling im besten Sinn. Denn so trat der künstliche Satellit von Anfang an als argloser Baby-Mond auf den Plan, als kleiner Trabant, wörtlich, als Begleiter der Erde und nicht als technisches Objekt, das einen Himmelskörper umkreist.

Man erinnert sich an Jobs bahnbrechend innovativen Ansatz, dem PC seine Techniklastigkeit auszutreiben. Indem er die langweiligen grauen Kisten rekonzipierte, eben mit ästhetisch-mathematische Grundformen wie den Würfel („Cube“) oder den organisch-eiförmigen iMac umwertete, schuf er die Basis für eine neue, emotionale Zugänglichkeit seiner Apparate. #ElonMusk ist ein veritabler Nachfolger im Geiste, wenn man sich die Redesigns der Astronautenanzüge und Raketen anschaut.

Einstweilen die Welt 1957 noch TASS-Nachrichten debattierte, Risiken abschätzte und die 500. Umkreisung von SPUTNIK EINS, verfolgte, legte Koroljows Team nach. Abgelegen, in der Nähe von #Baikonur in #Kasachstan, nahe der Siedlung #Tjuratam war der Weltraubahnhof, Kosmodrom genannt, entstanden. Und eine Art Hundezuchtstation.

Denn als die Sowjets am 4. November 1967 die Rakete R-7 mit SPUTNIK ZWEI ins All zündeten, befand sich nicht nur Funktechnik an Bord. Erstmals schossen sie ein lebendiges Wesen, die Hündin #Laika mit in den Erdorbit.

Wer die Geschichte der Weltraumtiere erforscht, kommt an Laika, aber auch an #Belka und #Strelka nicht vorbei. Letztere waren die ersten beiden Tiere, die am 19. August 1960 wohlbehalten aus dem All zurück kehrten und den Raumflug Juri Gagarins (am 12. April 1961) ebneten.

Die symbolischen Held:innen-Geschichten um die sogenannten Kosmonauten-Hunde oder Space-Dogs haben allerdings Webfehler. Sie stimmen nur sehr bedingt und sind ein Lehrstück für Ideologiekritik, Technologiefundamentalismus und die Verselbständigung von #NiceStories. Die russische PR hatte ganze Arbeit geleistet. Doch wie perfide man sich der Tiere bemächtigte, erschließt sich erst Jahrzehnte später.

Einem Kalkül Koroljows entsprechend, erwiesen sich Moskauer Straßenhunde als sehr viel widerstandsfähiger als jene Primaten, mit denen die Amerikaner experimentierten. Das russische „Institut für Luftfahrtmedizin“ erhielt daher Hunde, die einem vorgegebenen Standard entsprachen: Nicht schwerer als 6kg und nicht höher als 35cm Wuchshöhe. Kidnapping nach der optimalen Größe für die hermetische Kabine.

Niemand wusste seinerzeit, wie der Organismus den Aufenthalt im Weltraum verkraften würde. Von Ausdehnung der inneren Organe bis hin zu kochendem Blut in den Arterien schien alles möglich. Laika und viele andere Tiere starben wie es euphemistisch gerne heißt ‚im Dienst‘ für die Menschheit.

Mittels Gewöhnungsprozeduren versuchten die Forscher, die Tiere vorzubereiten und die Grenzen des Machbaren auszuloten. Doch das vermeintliche Gewöhnen war weiten Teils das Aussetzen an qualvolle Bedingungen wie Isolation, Vibration, Lärm, Dekompression, Zentrifugalkräfte, Schwerelosigkeit, Assanierungsanlagen, Schleudersitz- bzw. Katapultvorrichtung usw. ging voll auf Kosten der Tiere. Planvoll geduldete Tierquälerei.

Das popkulturell wirksame Nachbild des niedlichen kleinen Hundes, der im Weltraumanzug mit gläserner Kugel munter Richtung Mond fliegt, zeigt in Wahrheit erhebliche Risse.

Auch die Positionen von Belka und Strelka , die als Präparate verträumt sehnsuchtsvoll den gestirnten Himmel über sich, das moralische Gesetz in sich, anhimmeln, sind schlimmste Tatsachen-Klitterungen, ideologische Verkehrung und rechtfertigen in keiner Weise, was Laika und ihre Gefährtinnen erduldeten. Das bekannte Titelfoto zeigt sie angeblich kurz vorm Abflug, was ganz sicher nicht der Fall ist. Auch wurden die offiziellen Pressefotos geschönt, die struppigen Straßenhunde sollten – Instagram lässt von ferne grüßen – fotogener erscheinen.

„Ich erinnere mich, dass die Hunde für die Zeitungen schöner, besser gebaut und mit intellektuellem Schnäuzchen erscheinen mussten.“ (Oleg Georgiwitsch Gasenko) 

Es war #OlegGasenko, der 1998 selbstkritisch den Tierversuch mit Laika so auf den Punkt brachte:

„Die Arbeit mit Tieren ist für uns alle eine Quelle ständigen Kummers. Wir behandeln sie wie Babys, die nicht reden können. Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr tut mir das Ganze leid. Wir haben zu wenig aus dieser Mission gelernt, um den Tod des Hundes zu rechtfertigen.“

Oleg Georgiwitsch Gasenko

#Perestroika#Wiedervereinigung nebst Zerfall der #UDSSR öffneten Archive, die lange unzugängliches Material zutage brachten. Bezeichnenderweise sind es nicht wissenschaftliche Texte, die das heile Bild des menschlichen Fortschritts konterkarieren:

#NickAbdazis Graphic Novel Laika, genau wie der Dokumentarfilm #Spacedogs von #ElsaKremser und #LevinPeter versuchen künstlerische Annäherungen, um uns die Stoffe in ihrer Komplexität näher zu bringen. Dabei haben Kremser und Peter dank hartnäckiger Recherche, verlässlicher Transparenz und überzeugender Bildsprache Vertrauen für ihr filmisches Projekt erzeugen können. Auch Abdazis konnte erstmals die Ambiguität der damaligen Akteur:innen – nicht zuletzt Koroljows eisernen Willen und der Kreis der für die Tiere Verantwortlichen, wie Gasenko und andere – in die Sprechblase der Graphic Novel bringen.

Technik hat zu allen Zeiten die Reichweite der Menschen verändert, meist ihren Radius vergrößert. Prinzipiell ist gegen technische Errungenschaften auch solange nicht zu sagen, solang ihre Balancen und Dysbalancen transparent bleiben und ihre Auswirkungen nicht von einigen (happy) fews über (sadly) manys vorgegeben und in closed shops verhandelt werden. Im Fall von Laika nicht zuletzt von Menschen über bloße ‚Versuchstiere‘ (Hunde nebst Affen, Kaninchen, Mäusen, Ratten, Schildkröten). Nur, weil wir es können, dürfen wir „die kleinen ergebenen Brüder“ nicht rechtlos einspannen für unsere Zwecke. 

Dass das #SpaceRace der 50er und 60er in unserer Zeit Fahrt aufgenommen und an Brisanz gewonnen hat, wird niemandem entgangen sein. Dass die Raumfahrt in Teilen privatisiert wird und sich damit privilegierte Zugänge sichert, stößt auf so geringe Resonanz, dass es mich wirklich befremdet. Wem gehört denn eigentlich das All? fragte ich in einem Exposé mit Null Resonanz.

Dominiert von Technologiekonzernen, Militärvertretern, Agencys, Lobbyisten, werden die Diskurse bislang recht einseitig geführt. Die Vision, einst auf anderen Planeten leben zu können (womöglich in gar nicht so ferner Zukunft zu müssen), fegt alles, was die instrumentelle, taktische, zweckdienliche Vernunft stören könnte, hinweg. Fragen in dieser Hinsicht sind lästig. Claims und wirtschaftlichen Interessen (#Rohstoffe#Besiedelung etc.) dominieren und verweisen berechtigte Einwände als problem- statt lösungsorientiert.

Dabei verpufft die Warnung, im #Weltraum nicht die gleichen Fehler zu begehen wie auf der Erde. Wenn überhaupt (!), handelt es sich um eine #Allmende und kein nationales Privateigentum. Die Erforschung des Alls war nie frei von militärischen und wirtschaftlichen Interessen.

Als den Sowjets bei Kriegsende die Hinterlassenschaften der nationalsozialistischen Raketenforschung in die Hände fielen, hatten sie immerhin den Anspruch, die Geschichte möge sich nicht wiederholen; eine verzweckend missbräuchliche Verwendung wissenschaftlicher Forschung sollte im (kapitalismusbefreiten) Sozialismus ausgeschlossen, statt dessen alle Kräfte der besseren Zukunft, der neuen Menschheit gewidmet sein. Beim VI. Weltjugendfestival 1957 in Moskau wurde folgende Eröffnungsrede gehalten:

„Sie sind zum Festival aus allen Ländern (…) gekommen und wir begrüßen Sie so wie Sie sind. Wir sind der Ansicht, dass jedes Volk das Recht hat, sein Leben so aufzubauen wie es das wünscht: Wir haben unsere Ideen und Anschauungen niemals jemandem aufgezwungen und beabsichtigen nicht, dies zu tun. (…) Wachen Sie über den Frieden, vereinigen Sie Ihre jungen Kräfte zu seinem Schutz, zur Festigung der Freundschaft und des wechselseitigen Verstehens zwischen allen Völkern, kämpfen Sie für eine bessere Zukunft der ganzen Menschheit! Es lebe die Jugend – der herrliche Frühling der Menschheit! (…) Es lebe und gedeihe der Weltfrieden.“

Klement Woroschilow

Bittere Realität war: Die Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn durch Moskau und das bewaffnete Einschreiten gegen Reformen lag kaum ein Jahr zurück. Dem Redner, Klement Woroschilow, einem engen Vertrauten Stalins, klebte Blut an den Händen.

Und doch, darf die Absicht, der Festigung der Freundschaft und des wechselseitigen Verstehens zwischen allen Völkern zu dienen, nicht per se eine Hohn-Rede sein. Frieden zu schaffen, bedarf der Bereitschaft, anzuerkennen, was war und was nicht war.

Das betrifft insbesondere auch die Satelliten-Forschung: Ohne Satelliten hätten wir heute keine Wettervorhersagen, keine Navigationsgeräte, keine Telemedizin und keine satellitengestützte Dokumentation des Klimawandels (Permafrost-Schwund). Aber freilich auch kein Mega-Farming, keine XXL-Rinderzucht, keine Überwachung und anderes mehr.

Hier setzt mein Satelliten-Zyklus an. Mich interessierte an dem Material zunächst einmal das vielstimmige Sprechen, angefangen von den toten Tieren selbst, über die Mauern und Pilaster der Räume, die offiziellen Verlautbarungen der Funktionäre, bis hin zu den kulturellen Subtexten. Als solches verstehe ich etwa die bis heute Wirkung zeitigenden Konzepte des anthropozentrischen Fortschrittsglaubens, der alle Begrenzungen in Zeit und Raum überwindet – auch um einen hohen Preis. Was Langgedichte mit einem episch-balladesken Ton leisten können, bleibt abzuwarten. Wozu es sie in der Moderne gibt? Eine Frage, die neben inhaltlichen Sachverhalten das Thema Zeugenschaft dokumentarischen Materials berührt. Darüber hinaus als Live-Erlebnis aber auch Aspekte wie Rhytmus, Puls, Klang usw. angehen. Eigenschaften, die unsere Naturhaftigkeit berühren und erlebbar machen.

Wo wir – im weitesten Sinn – zuhause sein können, welche Bedingungen es braucht und wie wir uns einrichten können, dazu kann der Abend am 3.11.22 im Kunstverein München vielleicht Inspirationen geben. Die Texte von #LubiBarre und #JudithKeller sowie die Bilder von #FelicitasKirgis sind auf jeden Fall anregend und vielversprechend.

* Ein Auszug aus dem Satelliten-Zyklus, das Gedicht „Sputnik Eins“ findet sich im Jahrbuch der Lyrik 2022

Dieser Blogpost erschien am heutigen Datum zuerst auf LinkedIn. Ich habe mir diese Gedanken anlässlich der #Lesung am 3.11.22 um 20 Uhr im #KunstvereinMünchen in der Reihe MeinedreilyrischenIchs gemacht. #Lyrik von #LubiBarre (Hamburg) #JudithKeller (Zürich) #ElviraSteppacher (München) und #Kunst von #FelicitasKirgis (München).

München. Digital. Erleben. Der Open Government Tag München 2019 (#OGTM19)

In Wahrheit sei es doch manchmal so. Mitarbeitende in der Verwaltung hätten eigentlich zwei Leben. Erstens ihr alltägliches, der sie am frühen Morgen in die Behörde führe und am Abend wieder hinaus. Dieses erste, normale Leben sei voll digitalisiert, es funktioniere via Smartphone, das meiste lasse sich dort via App mit einem Wisch des Daumens erledigen. Zweitens ihr berufliches…

Die ersten Lacher im Publikum zeigten: viele wussten aus eigener Erfahrung, wie die kleine Anekdote enden würde.

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Bloggerwalk zu Erika Mann: So geht Monacensia digital

Es gehört zu den reizvollen literarischen Experimenten, historische Personen in die eigene Gegenwart zu katapultieren. Der Kontrast erscheint umso reizvoller, je fremder die Persönlichkeit zur Jetztzeit ist. Ganz anders bei Erika Mann, der die Münchner Monacensia die erste eigene Ausstellung widmet. Die außergewöhnliche Frau einmal nicht als

  • Tochter von Thomas
  • Nichte von Heinrich
  • Schwester von Klaus.

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Kultur, Diversity und Humor. Drei ziemlich beste Freunde.

Diversity und Frauen, manchmal scheint es, als sei das Thema Diversity nur ein Frauenthema. Dabei zeigen Stichworte wie Neurodiversität oder Inklusion, dass wissenschaftlich und empirisch längst viel breiter zu dem Thema geforscht wird. Mit Recht, denn der Zusammenhang zwischen Übernormung, Anpassung und Leistung ist evident. Wer sich sexuell, religiös, neuronal usw. stets rechtfertigen muss oder seine wahren Bedürfnisse verschleiert, weil sie tabuisiert oder ausgrenzend wirken, wird unter seinem Niveau bleiben.

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Wie blind ist das denn? #KI, #KINarrative, #E-Roller und das Erkennen neuer Muster

Heute morgen (10.08.2019), auf dem Fußweg zum Supermarkt sah ich einen jungen Mann die U-Bahn Treppe hochkommen. Er trug eine getönte orangene Sonnenbrille, nicht ganz erwartbar für den Regentag, aber bitte. Als er ganz oben stand, erkannte ich, dass er einen Langstock führte. Er bewegte sich souverän, der Radius, den er mit dem Langstock auswarf, schien aber mit den überall rumstehenden E-Rollern zu kollidieren. Er drohte, sich zu verhakeln, so dass ich fragte, ob ich ihn kurz etwas fragen dürfte (nämlich ob er Hilfe bräuchte, da stünden kreuz und quer diese neuen E-Roller) und wir kamen ins Gespräch.

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Technologie-Narrative. Was KI von der Elektrifizierung lernen kann

Es sind Bedeutungszuschreibungen, kurz Narrative, die beeinflussen, was wir von neuen Technologien halten. Narrative beinhalten Werte und Emotionen, genau deshalb sind sie so stark, persönlich wie gesellschaftlich. Nehmen wir als Beispiel die Elektrifizierung. Der historische Abstand hilft klarer zu erkennen, wo wir mit KI stehen. Ich unterscheide idealtypisch drei Phasen:

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Offenheit für KI beginnt im Gehirn. Digitale Transformation, Hirnareale und Sprache.

Ganz gleich, wo die verschiedenen Modelle zur digitalen Reifemessung beginnen – Struktur, Führung, Kundenkontakt, Produktion, Vertrieb – ein entscheidendes Gebiet lassen alle außer Acht: unser Gehirn. Das ist nachlässig. Gerade, wenn es um sogenannte Künstliche Intelligenz geht. Fakt ist, zu allen Veranstaltungen, bei denen sich Menschen für neue Technologien, digitale Tools, Lernumgebungen und agile Prozesse öffnen sollen, bringen sie nun einmal auch ihr Zwischenhirn mit. Weiterlesen

Mensch, Mensch! Ian McEwans Buch „Maschinen wie ich“

Bestsellerautor Ian McEwans Buch Maschinen wie ich – Originaltitel Machines like you (and people like me – ist von der Literaturkritik in Teilen negativ aufgenommen worden. Auf weite Strecken Nacherzählung moderner Technologiephantasien, blasse Charaktere, zu wenig literarische Gestaltungskraft lauten die Einwände. Ich glaube, dass die Bedeutung des Romans vor allem in der Komposition des Plots liegt. Er ist präzise so gearbeitet, dass unsere Kategorien von Richtig/Falsch, Ethisch gut/Ethisch fragwürdig, Gerecht/Ungerecht, Zielführend/Katastrophisch zielführend in all ihrer Ambivalenz ausgespielt werden können.

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Wie soll das Kind denn heißen? Zum Begriff „Künstliche Intelligenz“ (KI)

Das mythische Potential von Namen wurzelt in den Schöpfungsgeschichten der Völker. In den Märchen, Fabeln und Legenden lebt es fort, ungebrochen in seiner Güte und Gefährlichkeit. Segen und Fluch liegen nah beieinander, gute Namensfeen stehen neben bös erzürnten. Wer einmal erlebt hat, wie aufrichtig Eltern um den Namen ihres Neugeborenen ringen, spürt etwas vom Ernst des Aktes – genau wie in den Ritualhandlungen Taufe oder Namensfeier.

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Wie Fotografen Künstliche Intelligenz (KI) inszenieren und was in Wirklichkeit Sache ist (Teil 3).

KI verhilft uns zum Schlaraffenland. Denn die algorithmisch aufgeschlaute Maschinen übernehmen alle anstrengenden, zeitraubenden und gefährlichen Aufgaben. Im Land, wo Milch und Honig fließen, fliegen uns die frisch gebraten Hühnchen bald auf Zuruf in den Mund. Frieden, Frohsinn und Ausgelassenheit gehören auf jeden Fall im Garten Eden dazu. Fragt sich, wie setzen Fotografinnen und Fotografen das ins Bild? Mit kindlichen Paradiesen! Teil 3) meiner Befunde aus Bildagenturen: Wichtel und Spielzeuge.

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Hi, AI

Kann man die Zukunft dokumentieren? Oder nur zuschauen, wie sie geschieht? Isabelle Willingers Filmdoku „Hi, AI“ unternimmt den Versuch. Sie fordert uns auf, Fragen zu stellen.

Wenn die eigenen Kinder einen Pflegeroboter für dich ins Haus holen, damit du nicht verkalkst, mit was muss du da rechnen? Wenn dir deine Roboter-Real-Doll-Sexpuppe gesteht: „Ich kann glücklich, traurig, wütend, eifersüchtig oder ängstlich sein“ – was macht das mit dir?  Der Dokumentarfilm „Hi, AI“ zeigt ebenso humorvoll wie verstörend, was passiert, wenn künstliche und natürliche Intelligenz aufeinanderprallen. Die schlechte Nachricht: Humanoide Roboter und anthropomorphe Androide können bereits viel mehr als erwartet. Die gute: Aber sie können weitaus weniger als befürchtet. Oder verhalten sich gute und schlechte Nachricht genau andersherum? Am Ende des Films kommen die Kategorien gut und schlecht durchaus ins Wanken, weil jede Menge Fragen entstehen.

Szene aus dem Trailer zur Doku „Hi, Ai“ von Isabelle Willinger. (Alle Rechte liegen bei der Regisseurin)

Der Berliner Regisseurin ist ein ruhiger, unaufgeregter, hin und wieder grandios situationskomischer Film geglückt. Eine Dokumentation über das Miteinander von Menschen und humanoiden Roboter. Andernorts bereits im Dauerbetrieb, scheinen humanoide Roboter hierzulande eher noch Gegenstand von Fachkreisen – seien es Gesprächen in Gründer- und Investorenzirkeln, Vorträge auf Technik-Konferenzen oder Diskurse innerhalb philosophisch-ethischer Fachtagungen.

Isabelle Willingers Film könnte gelingen, endlich einen breiten Diskurs anzustoßen und das Thema in die Mitte der Gesellschaft zu bringen. Die Leistung der Regisseurin besteht unter anderem darin, sich selbst radikal zurückzunehmen. Willinger erspart uns die doku-typischen „Experten“-Interviews, stattdessen zeigt sie Speaker in Aktion. Sie verzichtet auf ein auktoriales Voice-Over, stattdessen blendet sie Podcasts ein, also ein Dialogmedium.

Der sematische Subtext: Wir alle müssen selbst diskutieren, fragen, verhandeln und entscheiden,. Doch dazu braucht es Öffentlichkeit. Öffentlichkeit, die sich im Gespräch der Gesellschaft entwickeln muss. So gesehen dokumentiert sie dialogische Zukunft im Entstehen. Genau dieser Kunstgriff macht den Film zu einem bedeutsamen, ja gesellschaftspolitischen Film von hoher Relevanz.

Wer den Film ganz ohne Vorwissen auf sich wirken lassen möchte, sollte hier zu lesen aufhören….

Isabelle Willinger gestaltet mit „Hi, AI“ ein Kaleidoskop, das immer andere, mögliche Zukunftswelten entstehen lässt. Sie eröffnet mit jedem Handlungsstrang neue Szenensplitter, die Fragen wecken.

  • Wir sehen, dass die Seniorin Sakurau Pepper wie einen Dreijährigen behandelt und erkennen, dass der komplizierte Satzbau der kultivierten Japanerin Pepper überfordert. Erst dieTochter kann Pepper einen Satz entlocken, weil sie einfacher und artikulierter, eben robotergerechter spricht. Und insgeheim fragt man sich: Wer hilft hier eigentlich wem? und wie verändert sich unser aller Sprechen, wenn Roboter überall unter uns sind? Als dann endlich die ganze Familie beieinander sitzt und das neue Mitglied Pepper anstrahlt, ist Omas Stimmung heiter wie nie. Roboter also nur als „Familienmitglied plusEins?“
  • Wir sehen, wie der souverän erscheinende Texaner Chuck der Humanoidin Harmony schlimmste Kindheitserfahrungen anvertraut, was sofort die Frage wachruft, ob wir Robotern gegenüber womöglich viel ehrlicher sein werden können, da wir keine gesellschaftliche Rolle einnehmen müssen? Roboter also als Entlastung vom sozialen Selbst?
  • Wir sehen den poetischen Tanz eines Roboters mit einem Ballonkörper und fragen uns, warum sollen Roboter eigentlich anthropomorph sein? Zumal sie, wenn sie zu menschenähnlich erscheinen, auch wieder abgelehnt werden, weil wir sie fürchten. Roboter also lieber als Robotoid, denn Humanoid?
  • Wir sehen die Serviceroboter am Infostand oder in Wartezonen, die – Vorführeffekt! – gar nicht mal so gut funktionieren. Unwillkürlich fragen wir uns, wie wohl die wütenden Reaktionen aussehen könnten, die dem Auflegen in der Warteschleife entspreche und wünschen den freundlichen Service-Humanoiden Begleitschutz. Roboter also bitte zu behandeln mit mehr Respekt?

Mehr wird nicht verraten. Der Film lohnt sich!

Der Beitrag erschien zuerst auf LinkedIn und in meinem Blog NatürlichKünstlich

#Blogswirken, als erstes beim Bloggenden selbst

Bloggerin Katrin Hilger von Hilgerlicious hat zur mehr Wertschätzung für’s Bloggen eingeladen und eine #Blogparade ausgerufen. Weil schon so viel Kluges dazu geschrieben wurde und bald ein Update, ach, was – ein ganz neu verfasstes schlaues Buch von Bloggerexpertin Meike Leopold von start talking erscheint, möchte ich hier ganz eng am Wort bleiben. Etymologie wirkt nämlich auch.

Ja, stimmt, wir alle wissen, dass es sich bei „Blog“ um ein Kunstwort, eine Neuschöpfung, einen Zwitternamen aus „Web“ und „Logbuch“ handelt, aber was ist eigentlich genau ein „Log“?

Ein Log (auch Logge; v. engl. Log = (ursprüngl.) Holzklotz) ist in der seemännischen Navigation ein Messgerät zur Bestimmung der Fahrt, der Geschwindigkeit von Wasserfahrzeugen. Es zeigt die im Wasser zurückgelegte Strecke an. (Zitat Quelle: Wikipedia)

Das an einem Seil hängende Holzbrett wird, verbunden mit einem Senklot, aus dem fahrenden Schiff geworfen. Da das so beschwerte Holz an der Stelle verharrt, das Schiff jedoch weiterfährt, lassen sich gefahrene Meter und Zeit ins Verhältnis setzen. Was unverzichtbar ist, um die (relative) Geschwindigkeit auszurechnen, ist die abgespulte Logleine.

Ein sehr sprechendes Bild – jedenfalls für mein eigenes Bloggen. Wenn mich ein Thema interessiert, werfe ich neben meinem Schiffchen das Senkblei mit dem Holz aus. Ich fahre also erst mal auf Sicht und in gewisser Weise blind für meine Geschwindigkeit. Der so entstehende Text ist ein Rohling, ausschließlich für mich und nicht zur Veröffentlichung gedacht. Mir wird klar, was ich alles noch nicht weiß, was ich nochmal durchdenken möchte usw.

Fahre ich weiter, führt das dazu, dass ich erneut Seil abrollen muss. Meist bin ich jetzt schon weit entfernt – zumindest von den Empfehlungen zweier wichtiger Gruppen: den Datenanalysten mit ihren für Blogs empfohlenen Zeichenzahlen und den Finanzanalysten mit ihren für Wirtschaftlichkeit empfohlenen Aufwandsangaben.

Als Steuerlotsin nehme ich mir die Freiheit, selbst zu vermessen, wie lang meine Leine sein muss. Stelle ich fest, dass die Geschwindigkeit zu bestimmten Themen schneller ist als ich fahren kann, hole ich das Log aus dem Wasser und publiziere – nichts.

Oder ich publiziere etwas, das so lang ist, wie ein Sachverhalt aus meiner Sicht braucht. Der Preis, den ich dafür in Kauf nehme, sind verstörend lange Zeiten, in den ich nichts blogge und vermutlich zwischendurch als verschollen auf hoher See gelte.

Insofern: Ja, bloggen wirkt, und zwar erst mal bei mir selbst.

Um ein Beispiel zu geben: Zum Thema Künstliche Intelligenz habe ich ein Blog mit dem Namen NatürlichKünstlich eröffnet, das ich gerne schneller befüllen würde, was aber im Zielkonflikt mit meinen Blogansprüchen steht. Das Thema ist zwar sehr en vogue und es gäbe sicher ein Forum für steile Thesen. Dummerweise hat Anspruch beim Bloggen mit Wasser und Holz zu tun.

Die Feststellung, dass andere nur mit Wasser kochen, ist weder beim Bloggen noch auf See wirklich hilfreich. Es fördert kein Vertrauen. Holz ist im Wasser wichtiger als manch einer, der schwimmen kann, denken mag und deshalb gerne kopfüber in kalte Wasser springt.

Im Wasser, erst recht auf hoher See ist Holz überlebenswichtig. Zum Bau von Kanu, Karavelle oder Floß, braucht es dicke Bretter, übrigens genau jene, die sich auch unter den besten Bloggenden finden, weil sie sich den Luxus leisten, dicke Bretter zu bohren. Tl;dr kokettiert damit in gewisser Weise, weil sich Tl;dr nur erlauben kann, wer im vermeintlich Trockenen sitzt.

Ein Longread, das seinen Namen verdient, fesselt seine Leser_innen gerne und langanhaltend. Es hat nicht nur für den Augenblick, sondern mitunter für sehr lange Zeit Bestand. Blogger können Aufgaben wahrnehmen, die für eine Demokratie unverzichtbar sind.* Voraussetzung dazu ist die Bereitschaft, erst mal bei sich selbst mit dem Blog etwas zu bewirken.

Dann lohnt sich auch die Energie, die es zweifellos kostet, Fahrt aufzunehmen: Um sich und andere mit hinauszunehmen zur Fahrt ins Offene, meinetwegen auch auf zu „Neuland“.

So heißt “to log something.” auf Englisch „etwas abholzen“, im Sinne von Bäume fällen („to cut down trees in a forest for their wood”). Wohingegen “to log on/off” bekanntlich ein elektronisches sich Ein/Auswählen oder Ein-/Ausschalten bedeutet. Auch dies eine bemerkenswerte Etymologie, die einiges über den Zusammenhang von Holz und Strom – metaphorisch vom Zusammenhang  zwischen Print und Digital – verraten könnte.

Volle Fahrt voraus heißt immer öfter Kollisionsgefahr mit Unvorhersehbarem. Bei der Akzeptanz von Künstlicher Intelligenz spielen Geschwindigkeit, Geländegewinn und Genauigkeit jedenfalls mal mit-, mal gegeneinander. Gefahr und Gewinn hängen, so gesehen, am selben Faden oder Seil.

In einem Blog präzise an seinem Tau zu ziehen kann darum mehr bringen als das beliebte Tauziehen.

Blogs können wirken, jedenfalls beim Bloggenden selbst.

 

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*Vgl. dazu einen älteren Beitrag von mir „Können Blogs den klassischen Journalismus ersetzen?“

https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0010-3497-2006-2-117/koennen-blogs-den-klassischen-journalismus-ersetzen-zum-strukturwandel-durch-den-journalismus-der-buerger-jahrgang-39-2006-heft-2