Wie blind ist das denn? #KI, #KINarrative, #E-Roller und das Erkennen neuer Muster

Heute morgen (10.08.2019), auf dem Fußweg zum Supermarkt sah ich einen jungen Mann die U-Bahn Treppe hochkommen. Er trug eine getönte orangene Sonnenbrille, nicht ganz erwartbar für den Regentag, aber bitte. Als er ganz oben stand, erkannte ich, dass er einen Langstock führte. Er bewegte sich souverän, der Radius, den er mit dem Langstock auswarf, schien aber mit den überall rumstehenden E-Rollern zu kollidieren. Er drohte, sich zu verhakeln, so dass ich fragte, ob ich ihn kurz etwas fragen dürfte (nämlich ob er Hilfe bräuchte, da stünden kreuz und quer diese neuen E-Roller) und wir kamen ins Gespräch.

Wir hatten das gleiche Ziel, mal führte er, mal ich, so dass sich aus der simplen Frage wertvolle Anregungen ergaben.

Mich triebe grade das Thema um, wie neue Technologien Menschen helfen könnten, ohne sie zu bevormunden oder etwas über sie hinweg zu erfinden. Ob er glaube, dass neue Sensortechnologie (Stichwort: Autonomes Fahren, ToF) ihm auf seinem Weg helfen könnten?

Hinter der Frage verbarg sich natürlich auch ein Doppeltes: der berühmte „Job to be done“ – also kein Problem, kein Produkt – und es gibt keine Probleme, nur Lösungen, das ist alles nur eine Frage des Mindsets – also der Perspektive, der Haltung, der Achtsamkeit, der Sprache.

Er schien sich mit Technologien sehr gut auszukennen, meinte, er sei womöglich nicht repräsentativ, weil er sehr lange habe sehen können, nun gar nicht mehr. Das Sehen können habe ihm allerdings einen ganz anderes Orientierungswissen über den (städtischen) Raum verschafft.

Wir sprachen darüber, was es für einen Unterschied machen muss, ob man in einem räumlichen Umfeld groß wird und dieses sehen kann oder nicht. Allein das reicht zum Nachdenken für einen Samstag und Sonntag! Die Frage, welche Muster wir erkennen (können) und welche wir aufgrund unserer erkenntnistheoretischen Verfasstheit nie rausfinden würden, hat viel mit #KI und Sprache zu tun. Wenn der Name Rainhard fehlerhaft an die Wand projiziert wird, wie neulich erlebt, verstehen wir Menschen schneller, wenn man „Vorne mit E“ sagt, anstatt:

  • Von den zwei doppelt vorkommenden Buchstabengruppen in meinem Namen sind nur die uvularen Konsonanten richtig, von den Vokalen ist nur der zweite ein vollkommen offener, der erste ist halboffen, aber kein ö oder o.

Auf einem U-Bahn Handlauf hatte ich Brailleschrift in einem Handlauf zum ersten Mal gesehen und als gutes Inklusionsbeispiel im Gedächtnis gespeichert. Vermutlich war es ein Hinweis auf den nächsten Aufzug oder die Info enthielt weitere Angaben über Barrierefreiheit weiter unten am Bahnsteig.

Naiv, weil unbetroffen, ging ich davon aus, dass mein Begleiter sicher Brailleschrift lesen können müsste. (Ich hatte bei Gruner + Jahr mal eine Ausgabe des Stern und der ZEIT in Brailleschrift in der Hand, der große Henri Nannen und der große Bucerius haben die Idee dazu gehabt.) Nein, meinte er, die Brailleschrift sei für ihn gar keine Hilfe, erstens habe er sie nie erlernt, zweitens sehe er auch keine Notwendigkeit mehr darin, weil er sich das meiste als Podcast oder Hörbuch vorlesen lasse und außerdem komme all sein Post ja eh auf Papier ohne #barrierefrei zu sein. Ok, ein typischer Fall für Voice-Communication. Da gibt es ja sicher längst Abhilfe, Scan to Speech, wenn man das will, aber er schien ganz gut versorgt. Die Post lasse er sich von seiner Freundin oder Familie oder Freunden vorlesen.

Sein Hauptproblem, gestand er mir, seien Menschen, die, oft selber zittrig, ihn ungefragt am Arm packten und irgendwohin lenken wollten. Man würde das Mitleid merken und das mache klein. Übergriffig nennt man das wohl und ich war erleichtert, dass er mich, glaubwürdig versichernd, ausnahm #mademyweekend.

Wir kamen am Supermarkt an. Wir verabschiedeten einander und wünschten uns eine gute Woche.

Meine Learnings zur Musterbrechung

1. Folgenabschätzung: Liebe E-Roller-Anbieter, bitte sorgt prontito für Abstelllösungen und vergesst dabei weder das Nudgeing noch die Technik oder gegebenenfalls Kontrolle. Des einen Gewinn an Freiheit ist des anderen Verlust, dabei könnten beide Win-Win-Kompromisse finden.

2. Geschwindigkeit: #Slowdating ist genau so wichtig wie #Speeddating

3. Unvoreingenommenheit: Das eigentliche Problem erschließt sich bekanntlich nicht, ohne die Betroffenen zu fragen, ergebnisoffen.

4. Definitionen: Ich sehe was, was du nicht siehst. Einschränkungen im Sehsinn eröffnen andere Kompetenzen. Man denke an die fantastische, kompetenzstärkende Initiative „#DiscoveringHands„, bei der der überlegen ausgeprägte Tastsinn von Erblindeten in Schulungen zur Medizinisch Taktilen Untersucherin innerhalb der Krebsfrüherkennung eingesetzt wird. Das schließt die Kombination mit der herausragenden Bildverarbeitungskompetenz der KI nicht aus.

5. Inklusion: Freundschaft, ja gerne. Technologie, ja bitte, gerne als assistierende Alternative. Hilfe, ja auf Nachfrage.

Der Beitrag erschien zuerst auf LinkedIn am 10.08.2019